Ich denke nicht viel

Ich denke viel nicht.

Ich werde oft so was Ähnliches gefragt wie:

„Ich war jetzt schon soundso oft bei Ihnen… [meist weniger als 5 mal!] … – was denken Sie über mich? Wie sehen Sich mich?“

Ich sage dann meist einige Sekunden lang nichts. Und eigentlich ist das meine beste Antwort. Sie wirkt jedoch oft verwirrend auf mein Gegenüber. Dieser Mensch wartet in der Regel auf eine verbalsprachliche Äußerung als Antwort auf seine Frage. Außerdem wird das Ereignis, dessen Teil wir sind, gemeinhin psychotherapeutisches Gespräch, Coaching oder ähnlich genannt. Also spreche ich und gebe meine – grob gerechnet – drittbeste Antwort. Diese geht etwa so:

Es ist nicht so, dass ich etwas Bestimmtes über Sie denke. Vielmehr ist es so, dass ich auf eine bestimmte, nicht ganz leicht zu beschreibende Weise nicht denke – auch über Sie.

Wie soll ich das erklären? – Natürlich denke ich. Aber ich denke nicht so. Weite Teile meines Denkens sind jenseits von Sprache, in gewisser Weise  vor der Sprache. Sie sind (noch) nicht versprachlicht – ein Strom von Bildern, gefühlten Ahnungen, Metaphern, Gedankenfetzen, der mich umfließt. Es sind durchaus nicht wenige sprachliche Elemente darunter. Aber dabei handelt es sich nicht um Sätze. Die Beziehungen der Elemente untereinander folgen keiner Grammatik, jedenfalls keiner, die ich fassen könnte. Ich habe es auch noch nicht versucht, von diesem kleinen Text abgesehen. Ich genieße den Modus des Seins, den ich hier zu beschreiben versuche, aber ich will ihn nicht lehren. Ich möchte lediglich ein wenig um Verständnis werben dafür, dass ich oftmals so seltsam umständlich reagiere, wenn ich gefragt werde, was ich denke. In meinem Erleben handelt es sich eher um flüchtige begriffliche Polaritäten, um vage Metaphern, die sich wandeln, während ich sie betrachte. Manches, das mir da begegnet, würde ich gerne fixieren, aber ich habe gelernt, in gewisser Weise ziellos umher zu streifen und die Dinge vorbeiziehen zu lassen. Ich genieße es, einen vagen Eindruck von diesem oder jenem zu erhaschen und allenfalls aus dem Augenwinkel zu betrachten, was mich da streift. Früher oder später treten einzelne Schatten aus dem Rande meines Gesichtsfeldes in das Zentrum, verbinden sich miteinander und werden klar erkennbar – vielleicht als Handlungsimpuls, als Bild oder als Begriff. Ich sage oder tue etwas und nicht selten vergesse ich es alsbald danach. Mir gefällt das. Es fühlt sich gut an. Aber ich weiß, dass es nicht immer ganz kompatibel ist, mit dem was andere Menschen von mir erwarten, nicht zuletzt die Repräsentant*innen der Institutionen dieser Gesellschaft.

Indem mich also jemand nachdrücklich fragt, was ich denke, trete ich ein in eine Welt zwischen der Sprache und diesem Denken jenseits des Denkens. Diese Zwischenwelt kann ich vielleicht beschreiben als einen Bewusstseinszustand, in dem es möglich wird, dass Worte mich finden, die dem nahe kommen, was ich lieber nicht versprachlicht hätte. Denn ich werde dann gezwungen oder sagen wir: nachdrücklich eingeladen, sprachlich zu fassen und auszuformulieren was vorher in meinem Geist nicht da war – nämlich eine Art Theorie, ein in sprachliche Kategorien gefasstes Modell über denjenigen Menschen der da vor mir sitzt. Viele derjenigen, auf deren Beharren ich mich dieser Mühe unterzogen habe, fanden das Ergebnis sogar hilfreich. Auch ich kann den potenziellen Nutzen durchaus sehen. Allerdings habe ich auch schon oft verblüfft erlebt, wie rasch ein flüchtiges, in meinem Geist nur wenig gereiftes Verständnis, kaum dass es in Sprache gekleidet war, im Denken eines anderen Menschen zu einem neuen, mehr oder minder starren Vorurteil über das eigene Selbst werden konnte.

Darum versuche ich es nicht selten mit einer Gegenfrage. Sie ist gewissermaßen meine zweitbeste Antwort. Etwa so:

Wäre es auch in Ordnung, wenn ich Ihnen zumute, der Versuchung, zu wissen was ich denke, noch eine Weile zu widerstehen?

Comments

1
  • Sebastian

    Ein sehr guter Eintrag, der trotz der Schwierigkeit genau das in Worte fasst, was nicht versprachlicht ist.
    Der beschriebene Zustand des nicht-sprachlichen Denkens begegnet einem auch im Alltag, wobei es dabei oftmals nicht bemerkt wird. Dort ist man gezwungenm, bestimmte Dinge zu versprachlichen. Das führt dazu, dass keiner weiß was er sagt und man oftmals wild herumrudert auf der Suche nach den richtigen Worten 😉 . Mal abgesehen davon, dass derjenige, an den die Worte gerichtet sind, nicht zuhört…

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